Eines der letzten öffentlichen Fotos zeigt Hans-Jochen Tschiche vor einem Bücherregal sitzend, in welchem sich Gartenratgeber, Kunstbildbände, philosophische Schriften und theologische Werke reihen. Das Bild verrät Hans-Jochen Tschiche als einen, der als Christ, Theologe, Bürgerrechtler und Politiker beständig die Wirklichkeit prüfte an dem, wofür er einstand: demokratische Konfliktfähigkeit, Verantwortung und Solidarität. Diese Tugenden pflegte Hans-Jochen Tschiche unabhängig von Amt oder Mandat. Es war seine Haltung. Er hatte ein feines Gespür dafür, wenn die Rechte von Minderheiten in Bedrängnis gerieten, und trat für sie ein. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Als er sich für die Rechte zweier ehemaliger Sexualstraftäter in Insel engagierte, brachte ihm dies vielfältige Anfeindungen ein, die er gelassen zurückwies.
Hans-Jochen Tschiche war ein Mutmacher in mutloser Zeit. In den bleiernen 1980er Jahren der DDR suchte er gemeinsam mit Menschen aus der oppositionellen Friedens- und Umweltbewegung Auswege aus dem gesellschaftlichen Stillstand. In Seminaren und Samizdatzeitschriften forderte er, was andere nicht einmal zu denken wagten: eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft. Als Gründungsmitglied des Neuen Forums gab er Impulse für eine Erneuerung der DDR. Schon zuvor war Tschiche gegen den Strom geschwommen. Er hatte die Niederschlagung des Prager Frühlings kritisiert und den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterstützt.
Wenige Jahre später war Tschiche Fraktionsvorsitzender der Bündnisgrünen im Landtag von Sachsen-Anhalt, als auch hier Asylbewerberunterkünfte angegriffen und Migrant_innen von Neonazis gehetzt wurden. Betroffenheit als Antwort reichte Tschiche nicht. Seine Fraktion gab eine Untersuchung in Auftrag, die sich mit den Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt befasste und die gesellschaftliche Debatte darüber forderte.
Nach dem Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt wurde diese Debatte dringlicher und breiter. Hans-Jochen Tschiche ermöglichte gemeinsam mit den beiden, damals die Landesregierung tragenden Parteien SPD und PDS einen echten Dialog zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Politik darüber, wie eine Zurückdrängung von Rechtsextremismus und die mühsame Graswurzelarbeit der Demokratisierung der Gesellschaft aussehen kann. An diesem Prozess, der zur Gründung des Vereins Miteinander führte, waren viele mit ihren Ideen beteiligt: Sozialwissenschaftler_innen, Aktivist_innen, Politiker_innen, Gewerkschafter_innen sowie Vertreter_innen der Kirchen. Über fünfzehn Jahre, von 1999 bis 2014, hat Hans-Jochen Tschiche den Verein als Vorstandsvorsitzender durch manche Stürme geführt und unsere Profilierung begleitet. Miteinander e.V. profitierte von seinen Erfahrungen, seiner Gelassenheit und seiner Konfliktfähigkeit.
Oft war es ein Vergnügen, mit Hans-Jochen Tschiche ins Gespräch zu kommen. Komplexe Ereignisse vermochte er auf eine Zigarettenlänge zu bringen. In einer solchen Pause erfuhr der interessierte Zuhörer im Gespräch über Heutiges unvermittelt Einsichten in die Vergangenheit. Eindrucksvoll streifte er die Geschichte der ostdeutschen Kirchen, jene der DDR-Opposition oder die Jahre des Aufbruchs nach der Wiedervereinigung. In diesen Nebenbei-Erzählungen mischten sich Analysen und Reflexionen mit einem schier unendlichen Schatz an Anekdoten über Kirchenleute, SED-Funktionäre oder Politiker_innen der Gründungsjahre des Landes Sachsen-Anhalt. Der Erzähler Tschiche wusste seine Zuhörer zu fesseln und das Pausengespräch mit einem knappen „So dann wollen wir mal“ zu beenden.
Am 25. Juni ist Hans-Jochen Tschiche im Alter von 85 Jahren gestorben. Er wird uns fehlen – dem Verein, seiner Partei und dem Land Sachsen-Anhalt. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und in Dankbarkeit bei ihm.