Vor 78 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee Auschwitz. Der Zweite Weltkrieg ging in seine letzten Monate, der Zusammenbruch des Deutschen Reiches war absehbar. Und dennoch lief die nationalsozialistische Mordmaschinerie unerbittlich weiter – auch in Magdeburg bis zur Besetzung der Stadt durch die US-Armee am 19. April 1945. Mehr noch, in der Endphase des Zweiten Weltkrieges radikalisierte sich das Verhalten auf deutscher Seite, und für viele der Verfolgten kam die Befreiung zu spät.
Als die alliierten Armeen der Antihitlerkoalition vorrückten, begannen die Nationalsozialisten ab Sommer 1944 mit der Räumung der Konzentrationslager. Riesige Häftlingskolonnen wurden in aller Öffentlichkeit zu Fuß auf den Weg in die verbliebenen Lager im Reich geschickt. Auf den Märschen starben Tausende an Krankheiten, Entkräftung und unter den Schüssen der deutschen Wachmannschaften.
Anfang April 1945 standen die amerikanischen und britischen und bald auch die sowjetischen Truppen im Raum Magdeburg-Anhalt. Daraufhin schickte man auch hier die Häftlinge der zahlreichen Außenkommandos, in denen sie zur Arbeit für die Rüstungsindustrie gezwungen worden waren, auf Todesmärsche, v. a. in Richtung der Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen. Das KZ-Außenlager bei der Brabag in Magdeburg-Rothensee – dieser Betrieb hatte synthetischen Treibstoff produziert – war bereits im Februar 1945 geräumt worden. Die dortigen, noch lebenden 465 Häftlinge waren nach Buchenwald transportiert und zur Arbeit in weiteren Außenkommandos gezwungen worden. Etwa zeitgleich mit dem Stammlager Buchenwald stand auch die Räumung des KZ-Außenlagers für Frauen und Männer bei den Polte-Werken in Magdeburg bevor.
Polte hatte zu den größten Rüstungsunternehmen des Reiches gezählt und produzierte bis zuletzt vor allem Geschosse für die Wehrmacht. Bei den Häftlingen handelte es sich um verschleppte Frauen und Männer aus Ost- und Mitteleuropa, unter ihnen viele jüdischen Glaubens. Im Lager begann das Lagerregime auseinander zu brechen. Die Amerikaner hatten am 11. April die Grenze des Stadtgebiets erreicht, das zur Festung erklärt worden war. Die Männer des Magdeburger Volkssturms, Hitlerjungen und wenige verbliebene Einheiten der Wehrmacht sollten zum „Endkampf“ um die Elbestadt antreten. Das Polte-Werk an der heutigen Liebknechtstraße stand auf einmal leer, ebenso wie die Kommandantur des Außenlagers. Die Kommandanten hatten die Flucht ergriffen. Ihnen folgten an den nächsten beiden Tagen nach und nach die SS-Wachmänner und Aufseherinnen. Zuvor hatten sie – bereits ohne funktionsfähige Kommandostruktur – versucht, die geschundenen Häftlinge zu einem Evakuierungsmarsch zusammenzutreiben. Aus Angst und vielleicht auch aus Hoffnung auf die baldige Befreiung durch die US-Armee widersetzten sich die Häftlinge den Anordnungen. Die SS schoss um sich, es gab viele Verletzte, doch musste die Lagerbewachung den Versuch zur Räumung schließlich aufgeben.
Vor diesem Hintergrund erhielt nun die Volkssturmkompanie Magdeburg-Neustadt am 11. April 1945 den Befehl, die KZ-Häftlinge zusammenzutreiben und abzutransportieren. Am Abend des 12. April erreichten zwei Volkssturmzüge das kleinformatige Konzentrationslager und bereiteten seine Evakuierung vor. In den frühen Morgenstunden des 13. April in der Zeit zwischen vier und sechs Uhr wurden die inhaftierten Männer und Frauen mit wütendem Hundegebell geweckt und gewaltsam aus den Baracken getrieben. Mehr als 3.700 Häftlinge – in der Mehrzahl Frauen – setzten sich in Begleitung der schwer bewaffneten Volksturmeinheiten und Angehörigen der Hitlerjugend in Marsch durch das Stadtgebiet Richtung Osten. Die völlig entkräfteten Menschen benötigten unter ständigen Misshandlungen Stunden für den Weg zur Strombrücke über die Elbe. Auf dem Gelände des Stadions „Neue Welt“ sahen sich die Bewacher zu einer Rastpause gezwungen.
Das alles geschah, während die Kriegshandlungen um die Einnahme der Stadt ihren Fortgang nahmen. Auf dem Stadiongelände gerieten die Häftlinge plötzlich unter Artilleriebeschuss amerikanischer Truppen, die im südöstlichen Stadtgebiet standen. Zeitzeugen berichten von mindestens zwei explodierenden Granaten bzw. einer ganzen Salve. Es gab mehrere Tote und Verletzte. Die Häftlinge versuchten voller Panik in den angrenzenden Sträuchern Deckung zu suchen oder zu fliehen. Daraufhin eröffneten die Volkssturmeinheiten das Feuer. Von einem Barackenlager des Volkssturms in unmittelbarer Nähe des Stadions wurde ebenfalls auf die Häftlinge geschossen. Das Feuer der Wachmannschaften hielt etwa eine halbe Stunde an.
Meir Levenstein aus Lettland, jüdischer Überlebender des Massakers, schildert die schrecklichen Minuten: „Abgerissene Teile menschlicher Körper flogen durch die Luft. Hände, Köpfe mischten sich mit der Asche und den Ziegeln.“ Die Polin Irena Lukawska, damals KZ-Häftling in der Kategorie politisch, berichtet: „Zahlreiche Gefangene sind umgekommen. Ich kann mich noch erinnern, dass während der Flucht wir stets auf menschlichen Körpern herumgelaufen sind.“ Alicja Danielak erzählt von dem Beschuss der Wehrlosen: „Ich warf mich mit dem Gesicht auf die Erde, und als ich nach einer Weile aufstand, erblickte ich unmittelbar neben mir eine Russin mit zerschmettertem Schädel.“
Wie viele Häftlinge das Massaker nicht überlebten, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in den fünfziger Jahren bestätigen eine Zahl von 42 Toten, wovon etwa ein Drittel durch den Artilleriebeschuss der Amerikaner ums Leben gekommen sei. Diese Zahl bezieht sich allerdings nur auf die Ermordeten, deren verscharrte Leichen nach Kriegsende in unmittelbarer Nähe des Stadions gefunden wurden. Die Schilderungen ehemaliger Häftlinge enthalten zwar überwiegend keine Zahlen, lassen aber den Schluss zu, dass wahrscheinlich deutlich mehr Menschen zu Tode kamen. Dazu passen auch die Zeugenangaben in den Protokollen der Gerichte, die sich einige Jahre später mit den Ereignissen beschäftigten. Hier wird ein 17-jähriges Mitglied der Hitlerjugend erwähnt, das sich damit brüstete, allein 17 Häftlinge mit seiner Pistole erschossen zu haben.
Nach dem Massaker wurden die Überlebenden erneut zusammengetrieben und in Marsch Richtung Osten geschickt. Irena Lukawska erzählt über den Todesmarsch der Frauen: „Wir sind zu Fuß gegangen, hungerten und froren bis 19. April. Während der Marschzeit haben wir [an insgesamt sieben Tagen] zweimal gekochte Schweinekartoffeln erhalten. Die SS-Leute haben die ganze Zeit auf zurückbleibende Personen oder Ausreißer geschossen.“ Als die weiblichen Häftlinge schließlich das KZ Ravensbrück erreichten, waren von den knapp 3.000 Frauen, die aus dem Außenkommando Polte-Magdeburg auf den Todesmarsch getrieben wurden, nur noch etwa 600 am Leben. Von dort evakuierte das schwedische Rote Kreuz einen Teil zur Erholung nach Schweden. Andere blieben zurück und wurden am 29./30. April 1945 von der Roten Armee befreit. Die männlichen KZ-Häftlinge aus Magdeburg marschierten weiter Richtung Sachsenhausen. Von dort ging es in mehreren Kolonnen in Richtung Rostock.
Im Zusammenhang mit dem Massaker im Stadion „Neue Welt“ fand 1951 in Magdeburg ein Gerichtsverfahren gegen drei damalige Volkssturmangehörige statt. Sie wurden wegen der Ermordung von KZ-Häftlingen angeklagt und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Allerdings sprach das Landgericht Magdeburg im August 1952 die Angeklagten im Revisionsverfahren aus Mangel an eindeutigen Beweisen für ihre Tatbeteiligung frei. Bis heute wurde keiner der Beteiligten an dem Gewaltexzess zur Rechenschaft gezogen. Offenbar hatte auch die DDR bei der Bestrafung der vermeintlich kleinen Täter*innen die Integration des Gros der ehemaligen „Volksgenossen“ im Blick, die nun dringend für den Wiederaufbau benötigt wurden.
Verbrechen wie diejenigen am Stadion „Neue Welt“ ereigneten sich tausendfach in der Endphase des Krieges. Das Massaker in Magdeburg wurde nicht von vermeintlich längst entmenschlichten SS-Männern, sondern von ganz gewöhnlichen Magdeburgern verübt. Die Motivation zum Mord dürfte in einem Bündel von Faktoren zu suchen sein: Dem jahrelang durch die NS-Propaganda verbreiteten antisemitischen und rassistischen Hass, wonach Jüdinnen und Juden zu den „artfremden“ Feinden der „Volksgemeinschaft“ zählten und Osteuropäer*innen als „Untermenschen“ deklassiert worden waren; in der alltäglichen zum Kriegsende noch gesteigerten Bedrohung durch Terror; und nicht zuletzt in der psychischen und physischen Anspannung angesichts einer hoffnungslosen militärischen Lage in einer zerstörten Stadt.
Seit Anfang der 1980er Jahre erinnert ein Gedenkstein am Stadion „Neue Welt“ an den Todesmarsch der KZ-Häftlinge mit dem Text: „13. April 1945: Hier wurden hunderte von KZ-Häftlingen von den faschistischen Verbrechern ermordet. Menschen seid wachsam!“ Offenbar waren aber die Mörder weder gänzlich anonym noch fügen sie sich in gängige Raster, die geeignet sind, die Vorfahren der eigenen Gesellschaft schnell zu entlasten. Weitergehende Fragen nach Schuld und Verantwortung sind deshalb angemessen.
Pascal Begrich/Maik Hattenhorst für das „Gedenkjahr Magdeburg 2023“