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Zivilgesellschaftliches Engagement in Krisenzeiten

DATUM

Keynote für den Festakt zum 30jährigen Jubiläums des Runden Tisches für Zuwanderung und Integration, gegen Rassismus in Sachsen-Anhalt

Die Zivilgesellschaft ist in aller Munde – mal wertschätzend, mal erwartungsvoll, mal argwöhnisch betrachtend, mal delegitimierend. Doch was ist eigentlich diese Zivilgesellschaft? Hier soll nicht eine sozialwissenschaftliche Abhandlung erfolgen, sondern betrachtet werden, was sie ausmacht bzw. ausmachen kann und mit welchen Perspektiven auf zivilgesellschaftliches Handeln geschaut wird. Die Frage lautet daher eher: Was macht sie aus welcher Sicht aus, die Zivilgesellschaft?

Im Rahmen der Debatten über Finanzierung und Förderung erscheint Zivilgesellschaft zunächst als mit sich selbst beschäftigte/mit sich selbst zu beschäftigende Akteurswelt: Sie soll präventive Maßnahmen umsetzen, sich vernetzen und dabei selbst Zielgruppe des Engagements sein – verbunden mit mehr oder weniger klaren staatlichen Zielvorstellungen.

Im Rahmen des sozialen Engagements – etwa in der Kinder- und Jugendhilfe – erscheint Zivilgesellschaft auf Basis des gesetzlich verankerten Subsidiaritätsprinzips als Agentur outgesourcter Staatsaufgaben. Im Rahmen des ehrenamtlichen Engagements erscheint Zivilgesellschaft oft als Kompensation für jene Bereiche, in denen der Staat – etwa in der Betreuung und Begleitung von Geflüchteten – überfordert ist (oder es zu sein scheint).

Aus der Perspektive von Verwaltung und Parteien in den Parlamenten erscheint Zivilgesellschaft mitunter als beharrliche Kritikerin und als fordernde Instanz. Oder aber Zivilgesellschaft fungiert als Hoffnungsträgerin, die in Zeiten der Krise „das Blatt wenden“, das gesellschaftliche Klima ändern und die Parteien stärken soll.

Zivilgesellschaft kann aber auch Akteurin der „dunklen Seite der Macht“ sein – bei rassistischen Mobilisierungen, bei der Verbreitung von Verschwörungserzählungen und Hass, bei der Propagierung autoritärer Konfliktlösungen, als Streiterin für Ideologien der Ungleichwertigkeit, als Motor einer demokratiefeindlichen Radikalisierung.

Zivilgesellschaft hier in und im Sinne dieser heutigen Runde soll jedoch vor allem verstanden werden in ihrem Agieren als demokratisierende Instanz:

  • im bürgerschaftlichen Engagement und dessen Mobilisierung;
  • in der Verstärkung von Stimmen jener, die oft überhört werden;
  • im Empowerment von Marginalisierten und Prekarisierten;
  • in der Selbstorganisation von Minderheiten;
  • in der Verteidigung demokratischer Räume gegen rechtsextreme Raumnahmen;
  • in der Bekräftigung demokratischer und menschenrechtsorientierter Normen und Werte;
  • in der Gestaltung nachhaltiger Zukunftsperspektiven oder
  • in der Reflexion, Kritik und Korrektur staatlichen Handelns.

Diese Potentiale von Zivilgesellschaft haben sich in den letzten 30 Jahren immer wieder gezeigt:

Zum Beispiel in den 1990er Jahren, der sogenannten Transformationszeit oder – aus Perspektive der Betroffenen ihrer menschenfeindlichen Auswüchse – in den sogenannten Baseballschlägerjahren. Damals erlebten wir den Aufstieg neonazistischer Milieus, deren sozialräumliche Verankerung und deren diskursive Deutungshoheit. Es waren die Jahre alltäglicher und mitunter tödlicher Straßengewalt. Es waren Jahre, in denen staatliches Handeln in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus an seine Grenzen stieß – weil (potentielle) Gefahren für Betroffene nicht gesehen oder ernst genommen worden, weil der Blick auf die Entwicklung aus Perspektive der Devianzbekämpfung keinen gesellschaftlichen Frieden brachte, weil der Fokus vor allem auf der Integration (potentieller) Täter und Täterinnen lag.

Damals war es die – zumindest in Ostdeutschland eher schwach ausgeprägte – Zivilgesellschaft, die den Neonazis die öffentlichen Räume streitig machte, die Perspektive der Betroffenen rechter Gewalt in den Mittelpunkt rückte, den Schutz Betroffener organisierte und den Staat zu einem veränderten Handeln drängte. Es waren oft wenige mutige Menschen, die vor Ort Position bezogen und eine demokratische Kultur verteidigten. Damals, in einer kritischen Phase der Demokratie hat sich gezeigt: Eine engagierte Zivilgesellschaft ist das Fundament einer demokratischen und offenen Gesellschaft.

Seitdem ist die organisierte Zivilgesellschaft gewachsen und hat – auch mit Hilfe des Staates – viele wichtige Ansätze in der Präventions- und Interventionsarbeit entwickelt. Zugleich musste sie aber immer wieder die Notwendigkeit ihres Engagements unter Beweis stellen.

Immer wieder war es auch nach den 1990er Jahren die Zivilgesellschaft, die auf Gefahren für die offene Gesellschaft aufmerksam gemacht und Menschen für die Auseinandersetzung mobilisiert hat. Oft waren und sind es – das muss man als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft selbstkritisch anerkennen – Angehörige jener Gruppen, die von rechtem Hass und rechter Gewalt betroffen sind. Das haben die Mordtaten des sogenannten NSU sowie die rechtsterroristischen Anschläge in München, Halle und Hanau auf erschreckende Weise verdeutlicht.

Und heute? Eine engagierte demokratische Zivilgesellschaft unter Einschluss marginalisierter Gruppen wird mehr denn je gebraucht. Seit einigen Jahren erleben wir eine – in diesem Ausmaß und Zusammenspiel in der Bundesrepublik nie dagewesene – Normalisierung und Entgrenzung des Rechtsextremismus:

  • mit Blick auf Bedrohungen
    • Hate Speech in den Sozialen Medien, auf der Straße und aus den Parlamenten heraus
    • rechte Gewalt und (internationaler) Rechtsterrorismus
  • mit Blick auf Diskurse
    • Verankerung von Themen und Fragestellungen in der öffentlichen Debatte
      ­
    • Problemorientierung, Feindbestimmung, Polarisierung und „alternative Wahrheiten“
    • Normalisierung von rechtsextremen Begrifflichkeiten
    • Delegitimierung von Gegenstandpunkten und Konsequenz in der demokratischen Haltung
  • mit Blick auf Reichweite
    • Ansprache und Beteiligung einer Vielzahl verschiedener Milieus
    • gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung durch (Soziale) Medien
  • mit Blick auf politische Repräsentanz
    • Wahlerfolge des Rechtspopulismus auf Bundesebene und in allen Ländern
    • Prozess der kommunalen Verankerung

Im Umgang mit diesen Herausforderungen:

  • kann Zivilgesellschaft in Kontexten, die polarisieren und in denen sich Menschen als handlungsunfähig wahrnehmen, Räume der Selbstwirksamkeit und gelebten Demokratie schaffen – gerade auch dort, wo sich Gesellschaft als fragmentiert erlebt wird;
  • weiterhin in gewisser Weise eine menschenrechtlich fundierte Wächter-Funktion mit Blick auf Demokratiegefährdung und menschenfeindlichen Mobilisierungen ausüben;
  • kann Zivilgesellschaft Brücken zwischen staatlichen Institutionen und Engagement-Strukturen bauen sowie Demokratie- und Konfliktkompetenz in einem unübersichtlich und widersprüchlich agierenden Umfeld vermitteln;
  • und Handlungssicherheit für gesellschaftliche Minderheiten bieten sowie für sie einen Schutz und Artikulationsraum darstellen

Dafür braucht es einen Staat, der Engagierte wertschätzt und fördert, sie aber auch schützt gegen Denunziation und Angriffe durch die extreme Rechte. Es braucht parteipolitische Akteurinnen und Akteure, die die Herausforderungen durch die Krisen und den Rechtsextremismus ernst nehmen. Vor allem aber braucht es einen politischen Diskurs, der sich nicht von der Agenda der extremen Rechten treiben lässt sowie inhaltlich und sprachlich nicht deren Ideologie und Ressentiments bestärkt und reproduziert. Einen Diskurs, wie er seit 30 Jahren so konstruktiv beim Runden Tisch geführt wird.

Pascal Begrich